Pascal Escales

Von einer Volkswirtschaft
der Lebensqualität

Warum sich eine hochwertige Versorgung mit Hilfsmitteln
für eine Gesellschaft rechnen kann

Fazit, Handlungsempfehlungen und weiterer Forschungsbedarf

Im Rahmen dieser Abschlussarbeit wurde der Einfluss von Hilfsmitteln unterschiedlicher Qualitätsausprägungen auf zentrale Lebensqualitätsfaktoren von Menschen mit Behinderung untersucht. Dabei wurde davon ausgegangen, dass aktives und autonomes Handeln eine wesentliche Grundvoraussetzung ist, um Lebensqualität erreichen oder steigern zu können. Synonym für die Handlung steht das Hilfsmittel, das einen Betroffenen befähigt, mit seiner Umwelt zu interagieren, Freizeitaktivitäten zu verfolgen, einer Arbeit nachzugehen oder etwas für den Erhalt seiner Gesundheit zu tun. Vorrangiges Ergebnis dieser Arbeit ist, dass mangelnde Hilfsmittelqualität vielfältige direkte oder indirekte negative Auswirkungen nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern auch auf die Wirtschaft und das Sozialsystem hat. Es konnte aufgezeigt werden, dass Einsparungen an Hilfsmitteln i.d.R. höhere Kosten verursachen als eine hochwertige und bedingungslosere Versorgung es tun würde. Gemessen an der Gesamtanzahl schwerbehinderter Menschen, auf denen hier der Fokus lag, wären die Aufwendungen einer prinzipiell hochwertigeren Versorgung zwar beträchtlich, doch konnten genug Hinweise gesammelt werden, um die Rentabilität bisheriger Versorgungsgrundlagen und Praktiken grundlegend in Frage zu stellen.

Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurden zunächst Quellen hinzugezogen und ausgewertet, die Indizien und grundlegende Daten für die naheliegende, bislang jedoch kaum untersuchte These eines Zusammenhangs von Hilfsmittel- und Lebensqualität liefern. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass behinderte Menschen ihre Lebensqualität allgemein schlechter beurteilen als nicht behinderte. Bei genauerer Betrachtung der einzelnen Lebensqualitäts-Bereiche konnte sowohl in der Theorie als auch anhand von konkreten Beispielen gezeigt werden, wie sich mangelnde Qualität in bestimmten Situationen auswirken und welchen Einfluss sie auf die Lebensqualität haben kann. Die theoretischen Ergebnisse konnten, ebenso wie im Verlauf der Arbeit entwickelte Konzepte und mögliche Maßnahmen für bessere Versorgungsleistungen, auch empirisch, durch Interviews mit Betroffenen, bestätigt werden.

Wie sich im Rahmen dieser Befragungen ergab, ist eine hochwertige Versorgung in Deutschland zwar im Prinzip kostenfrei verfügbar, ob man diese Versorgung jedoch tatsächlich erhält, ist an bestimmte Erfolgsfaktoren geknüpft, die nicht bei allen Betroffenen vorliegen. Neue Erkenntnisse aus den Befragungen ergaben, dass ein hoher Bildungsgrad, ein gutes Durchhaltevermögen, umfassende Markt- und Rechtskenntnisse, ein hilfsbereites Sanitätshaus sowie das persönliche Budget sich positiv auf eine hochwertige und umfassende Versorgung auswirken. Zugleich wurde die im theoretischen Teil aufgestellte Vermutung bestätigt, dass viele Betroffene die finanziellen Risiken im Zusammenhang mit Klagen für eine bessere Hilfsmittelversorgung scheuen. Trotz i.d.R. sehr hoher Erfolgsaussichten ergaben die Umfragen, dass das Restrisiko, sich aufgrund einer verlorenen gerichtlichen Auseinandersetzung zu verschulden, überwiegt, und dass daher häufig nicht weiter gegen Ablehnungen vorgegangen wird. Rechts- und Versorgungskenntnisse von Betroffenen wirken sich also vor allem auf den Erfolg bei Erstantragsstellung und bei Einsprüchen aus.

Ein weiteres Ergebnis der Umfragen war, dass es entgegen der sozialrechtlichen Definitionen von Hilfsmitteln und Versorgungsansprüchen im Freizeitbereich kaum Möglichkeiten gibt, benötigte Hilfsmittel durch Kostenträger finanziert zu bekommen. Das persönliche Budget einer ohnehin benachteiligten und finanziell schlechter gestellten Bevölkerungsgruppe ist damit ausschlaggebend für den Erfolg der Freizeitgestaltung. Wie in den Expertenbefragungen festgestellt wurde, ist gerade in diesem Bereich die Qualität eines Hilfsmittels ein entscheidender Faktor. Hilfen, die zwar vorhanden sind, das Durchführen von Aktivitäten aber zu aufwendig machen, hemmen die Betroffen und wirken sich negativ auf Handlungsbereitschaft und Motivation aus. Dort, wo hochwertige Hilfsmittel den Aufwand minimieren, steigt hingegen das Zufriedenheitsgefühl ebenso wie die Bereitschaft, Aktivitäten zu verfolgen.

Des Weiteren konnten in den Expertenbefragungen Hinweise darauf gesammelt werden, dass sich hochwertigere Hilfsmittel auch positiv auf Angehörige auswirken. Fehlende oder mangelhafte Hilfsmittel stellen für Angehörige eine große Belastung dar und können sich negativ auf deren Gesundheit auswirken. Vor allem, wenn der Ersatz von defekten Hilfen zu lange dauert, sind die Auswirkungen auf Gesundheit, Glücksempfinden, Zeit, Freizeit, Bildung und Arbeit nicht nur der Betroffenen, sondern auch ihrer Angehörigen beträchtlich, da z.T. die Handlungsfähigkeit komplett entfällt. Daraus folgt, dass insbesondere bei bereits bewilligten Hilfsmitteln eine schnellere und effizientere Reparatur- und Ersatzversorgung sichergestellt werden muss. Es steht zu vermuten, dass auch in anderen Lebensqualitätsbereichen ähnliche Zusammenhänge bestehen, die in Folgeuntersuchungen betrachtet werden sollten.

Im Zuge der Befragungen der Betroffenen wurde sehr deutlich, dass die Hauptursache einer mangelhaften Versorgung im fehlenden Wissen der Sachbearbeiter bei den Kostenträgern über die Behinderung, die medizinische Notwendigkeit sowie den Zweck eines Hilfsmittels liegt. Aufwendige bürokratische Prüfmechanismen und Prozesse verzögern so eine letztlich ohnehin erfolgende Versorgung. Neben hohen Verwaltungskosten, die bei den Kostenträgern durch Schriftverkehr, Arbeitszeit der Sachbearbeiter, externe Gutachter und ggf. hinzugezogene Ärzte entstehen, ergeben sich dadurch deutliche Einschränkungen bei den Betroffenen, die sich signifikant auf die Lebensqualität auswirken. Diese theoretisch und empirisch nachgewiesenen Auswirkungen belegen, dass Kostenträger im Versorgungsprozess gegen eigene Interessen wie auch gegen die Interessen anderer Kostenträger arbeiten. Gesundheitliche Schäden, Arbeitsplatzverlust und Bildungsdefizite sind Folgen, die mittel- bis langfristig andere Kostenstellen des Sozialsystems beanspruchen. Je nach Wirkungsgrad können minderwertige Hilfsmittel so um ein Vielfaches teurer werden. Diese Kosten sollten in Folgeuntersuchungen ermittelt und den Mehraufwendungen einer bedingungsloseren Versorgung gegenübergestellt werden.

Grundsätzlich betonten alle Betroffenen in den Experten-Interviews den Stellenwert hochwertiger Hilfsmittelqualität. Vor allem bei Körperersatzstücken wie Rollstühlen spielen individuelle Anpassungen, verbaute Materialien und technische Details eine große Rolle, die i.d.R. ihren Preis haben und in der Basisversorgung nur mit viel Aufwand erhältlich sind. Es wurde allerdings auch festgestellt, dass ein hoher Hilfsmittelpreis nicht immer mit hoher Qualität gleichgesetzt werden kann. So wurden teure Hilfsmittel teils als fehleranfällig beschrieben bzw. kleine, kostengünstige Alltagshilfen als qualitativ hochwertig und nützlich eingestuft.

Es stellte sich weiterhin heraus, dass gerade bei frisch behinderten, privat verunglückten Menschen anfangs oft ungenügend versorgt wird, was mutmaßlich damit zusammenhängt, dass diese ihre Möglichkeiten und Ansprüche noch nicht kennen. Bei guten Versorgungs- und Marktkenntnissen lag die Zeit bis zu einer umfassenden Versorgung bei über fünf Jahren. Die Vermutung liegt nahe, dass Kostenträger privat Verunglückte nur ungenügend über die Möglichkeiten der Hilfsmittelversorgung aufklären. Bei Berufsunfällen zeigte sich hingegen, dass eine hochwertige und umfassende Versorgung wesentlich schneller und mit weniger Aufwand erhältlich war.

Auch beim Thema Barrierefreiheit im öffentlichen Raum ergaben sich neue Erkenntnisse. Der barrierefreie Ausbau der Umwelt und des öffentlichen Personennahverkehrs wurden als stark verbesserungsbedürftig beschrieben. Nach wie vor werden behinderte Menschen bei der Planung und beim Ausbau öffentlicher Einrichtungen übergangen. Insbesondere im Nahverkehr und bei Projekten in der Privatwirtschaft wird Barrierefreiheit häufig komplett außer Acht gelassen. Offensichtlich fehlt den Planern als Fußgängern häufig die Nähe zu den Betroffenen, um Maßnahmen der Barrierefreiheit tatsächlich behindertengerecht umsetzen zu können. Auch hier entstehen Kosten, da Fehler im Rahmen gesetzlicher Ansprüche zur Barrierefreiheit schließlich korrigiert werden müssen. Hier bestünde die Möglichkeit, arbeitssuchende Behinderte stärker mit einzubeziehen. Die Kosten, die diese als Berater bei der Umsetzung von Barrierefreiheit verursachten, würden sich vermutlich durch das Vermeiden von Fehlern bezahlt machen. Eine konsequente barrierefreie Umweltgestaltung würde vor allem Wirtschaft und Integration fördern.

Beim Thema Arbeit wurde deutlich, dass behinderte Menschen nicht weniger motiviert und belastungsfähig sind als nicht behinderte. Das Problem liegt hier bei den Unternehmen, deren Bild von behinderten Menschen immer noch von Unsicherheit und Vorurteilen geprägt ist. Selbst bei Behinderten mit hohen Qualifikationen und in Bereichen, in denen Fachkräftemangel herrscht, wurde i.d.R. eine ablehnende Haltung eingenommen, wenn die Behinderung im Rahmen der Bewerbung genannt wurde. Notwendig wären daher noch mehr Aufklärung und höhere Sanktionen für Unternehmen, welche die Beschäftigung Behinderter ablehnen. Damit würde eine Auseinandersetzung mit dem behinderten Arbeitnehmer zwar erzwungen, doch könnten gute Arbeitsleistungen Vorurteile beseitigen und der Wirtschaft dringend benötigte Arbeitskräfte zuführen. Auch Ämter, die beantragte Arbeitshilfen zu zögerlich genehmigen oder gar ablehnen, wirken sich negativ auf die Beschäftigung aus. Die Befragten machten deutlich, dass ein solches Vorgehen den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten kann oder dass aufgrund fehlender Hilfen eine Kündigung noch vor Beginn der Probezeit ausgesprochen wird. Die Kosten der zu bewilligenden Arbeitshilfen stehen dabei nicht im Verhältnis zur Entlastung des Sozialsystems durch Steuereinnahmen und nicht mehr benötigte Inanspruchnahme von Auszahlungen wie Grundsicherung oder Arbeitslosengeld. Hilfsmittel, die den Erhalt oder den Beginn einer Tätigkeit bedingen, sollten daher schneller als bisher bereitgestellt und generell bewilligt werden.

Im Rahmen dieser Arbeit wurde auch aufgezeigt, wie sich eine hochwertige und umfassendere Versorgung finanzieren lassen könnte. Wie alle Befragten bestätigten, entstehen dem Sozialstaat, der Wirtschaft und nicht zuletzt den Betroffenen hohe Kosten durch schlechte Versorgung. Den höheren Ausgaben für Hilfsmittel müsste daher die Summe der Einsparungen, die im Bereich der Behandlungskosten, der Grundsicherung und des Arbeitslosengeldes sowie der Verwaltungs-, Rechts- und Gutachterkosten entstehen, und der Steuermehreinnahmen durch Berufstätigkeit und wachsende Konsumausgaben entgegengestellt werden. Viele dieser Kostenpunkte können aufgrund vorliegender Daten geschätzt werden, sollten aber in umfassenderen Untersuchungen genauer kalkuliert werden.

Im Zuge der Befragung ergab sich auch, dass Befürchtungen hoher Zusatzkosten durch Überversorgung unbegründet sind. Alle Hilfsmittel im Besitz der Betroffenen wurden auch akut benötigt. Keiner der Befragten würde sich Hilfsmittel zulegen wollen, die nicht benötigt werden, da diese letzten Endes nur im Weg stehen würden. Vor allem denjenigen, die bereits lange Zeit behindert waren, fielen keine Hilfen ein, die sie sich bei kostenfreier Wahl zusätzlich anschaffen würden. Bei allen Befragten wurden die zusätzlichen Hilfen, die über die Jahre angeschafft wurden, nach z.T. erheblichen Auseinandersetzungen schließlich genehmigt und übernommen. Daraus ergibt sich, dass gute Versorgung lediglich hinausgezögert wird, die Kosten aber früher oder später ohnehin anfallen und durch die aufwendigen Verfahren steigen. Effektive Mehrkosten entstünden den Kostenträgern also nur bei denjenigen Menschen, die bislang nicht die Möglichkeit haben, sich eine hochwertige Versorgung zu erkämpfen, und bei den Freizeithilfsmitteln, die bislang gar nicht durch die Versorgung abgedeckt sind. Diese Tatsache untermauert den Verdacht, dass Kostenträger die Verfahren absichtlich kompliziert gestalten, um bei weniger gebildeten und neu Behinderten Ausgaben zu sparen.

Aus diesem wie auch aus anderen triftigen Gründen sollten Entscheidungen zu Versorgungsleistungen daher nicht bei den Kostenträgern liegen. Es konnte in dieser Arbeit gezeigt werden, dass die entsprechenden Sachbearbeiter oft nicht über die nötige Kompetenz verfügen, um in Versorgungsfragen sachgerecht zu urteilen. Die wesentlichen Beteiligten am Versorgungsprozess sind Ärzte, Versorgungsunternehmen und Betroffene. Ein System, das effizient und schnell genug versorgt, um die genannten negativen Effekte abzuwenden, müsste auf den Entscheidungen dieser Parteien beruhen. Eine infolgedessen ggf. erhöhte Hilfsmittelproduktion kann dabei als Chance für deutsche Hersteller gesehen werden. Deutsche Unternehmen sind in der Hilfsmittelindustrie bereits jetzt weltweit führend. Diese Vormachtstellung kann durch steigende Aufträge und mehr Innovationen aufgrund eines höheren Investitionskapitals ausgebaut werden.

Abschließend bleibt festzustellen, dass die in dieser Arbeit untersuchten kritischen Erfolgsfaktoren der Wechselwirkung von Lebensqualität und Hilfsmittelqualität eine grundsätzliche Reformbedürftigkeit des Versorgungsprozesses nahelegen. Erfolgreiche Organisationen zeichnen sich i.d.R. dadurch aus, dass sie ihre Mitarbeiter mit überdurchschnittlichen Leistungen dazu motivieren, gute Arbeitsleistungen zu erbringen und so den unternehmerischen Erfolg auch in Zukunft sicherzustellen. Entsprechend gehen in Deutschland hohe Sozialleistungen und wirtschaftlicher Erfolg Hand in Hand. Der Mensch ist die wichtigste Ressource, sei es in Unternehmen oder Staaten. Vor diesem Hintergrund soll die vorliegende Arbeit zur Weiterentwicklung und Optimierung des Gesundheitssektors, des Kranken- und Sozialsystems beitragen und wichtige Anreize und Ideen im Hinblick auf die Chancen und Vorteile einer würdevolleren Versorgung für alle liefern. Neben der Wirtschaftlichkeit, die im Rahmen des Hilfsmittelversorgungsprozesses zu betrachten ist, muss dabei stets der ethische Aspekt berücksichtigt werden. Die Frage, was eine hochwertige Versorgung kosten darf, wenn diese Grundlage der persönlichen Entfaltung und der Lebensqualität ist, sollte sich in unserer Wertegesellschaft grundsätzlich nicht stellen.