Pascal Escales

Von einer Volkswirtschaft
der Lebensqualität

Warum sich eine hochwertige Versorgung mit Hilfsmitteln
für eine Gesellschaft rechnen kann

1.1 Relevanz des Themas

Jeder Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied, und eine Steigerung der Lebensqualität ist ohne eigenes Zutun in der Regel nicht erreichbar. Doch was, wenn der Arm zum Schwingen des Hammers nicht benutzt werden kann? Was, wenn die Beine nicht genügend Kraft aufbringen, um aufrecht zu stehen? In diesem Fall ist – jenseits von nicht beeinflussbaren äußeren Faktoren und dem eigenen, subjektiven Empfinden – eine Steigerung der Lebensqualität meist nur mit Hilfsmitteln möglich. In Deutschland leben (Stand Ende 2017) 7,8 Millionen Menschen mit Behinderung, davon haben etwa 4,6 Millionen eine körperliche- oder Mehrfachbehinderung (Statistisches Bundesamt, 2018). Diese Menschen benötigen Hilfsmittel, die – so die gesetzliche Definition – verloren gegangene körperliche Funktionen kompensieren, ersetzen oder ausgleichen können (vgl. Kapitel 2.1). Welchen Einfluss die Qualität solcher Hilfsmittel auf die Lebensqualität hat, ist Gegenstand dieser Arbeit.

In der Wissenschaft gibt es im Bereich der Lebensqualitätsforschung viele Theorien und Faktoren, welche die Lebensqualität beeinflussen. Lebensqualitätssteigernde Faktoren setzen in der Regel ein aktives Handeln des Individuums und Interaktionen mit der Umwelt voraus. Liegen Körperbehinderungen vor, die nicht oder nur ungenügend durch entsprechende Hilfsmittel ausgeglichen werden, kann dieser Umstand ein entsprechendes Handeln erschweren oder unmöglich machen. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Lebensqualität ist also abhängig von der Frage, wie gut ein Hilfsmittel seiner gesetzlichen Definition entsprechend in der Praxis verloren gegangene Handlungsfähigkeit wiederherstellt.

Die große Bedeutung der Hilfsmittelqualität für die Lebenszufriedenheit wird deutlich, wenn man einen Blick auf zentrale Lebensqualitätsfaktoren wirft. Schon die Erfüllung überlebensrelevanter physiologischer Grundbedürfnisse kann – je nach Behinderung – von einem Hilfsmittel abhängen. Lebensqualität geht darüber hinaus einher mit Begriffen wie Freiheit, Glück und der Möglichkeit, autonom und selbstständig zu handeln (Noll, 2000, S. 3-6). Neben nicht beeinflussbaren Variablen wie Persönlichkeitseigenschaften oder gewissen äußeren Umweltfaktoren wirken sich vor allem die eigene Handlungsautonomie sowie die Möglichkeit, sich fortzubewegen und am sozialen Leben teilzuhaben, auf den Grad der Zufriedenheit aus. Grundbedürfnisse, Individualbedürfnisse und soziale Kontakte – in all diesen Bereichen schaffen Hilfsmittel den nötigen Rahmen und Möglichkeiten besserer Einflussnahme.

Nicht zuletzt haben auch Umweltfaktoren zur Freizeitgestaltung einen Einfluss auf die Lebensqualität. Park- und Grünflächen, Kinos, Kunst-, Kultur- oder Sportstätten, Gastronomie und Öffentlicher Nahverkehr – auch hier gibt es eine Vielzahl an Faktoren, die zur Steigerung der Lebensqualität beitragen können. Gerade in großen Städten ist das Freizeitangebot groß und vielfältig. Menschen mit körperlichen Behinderungen, allen voran Rollstuhlfahrer und Mobilitätseingeschränkte, können dieses Angebot aufgrund von Barrieren und fehlenden Hilfsmitteln aber oft nicht nutzen.

Längst ist bekannt, dass Gesundheit in Form von physischem und psychischem Wohlbefinden ein wichtiger Erfolgsfaktor für Lebensqualität ist. Im Sozialgesetzbuch werden Hilfsmittel als Instrumente definiert, die unter anderem der Krankheitsvorbeugung dienen (vgl. Kapitel 2.1). Eine mangelhafte oder falsche Hilfsmittelversorgung kann somit schon per Definition schwerwiegende Symptome und Krankheitsbilder hervorrufen und negativen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit nehmen.

Auch der Faktor Arbeit hat in der Lebensqualitäts- und Zufriedenheitsforschung seinen Platz, wobei ein Zusammenhang zwischen Beschäftigung und psychischer Gesundheit besteht. Aufgrund mangelnder Zugänglichkeit und fehlender barrierefreier Arbeitsplatzgestaltung kommen viele Jobangebote für behinderte Menschen allerdings von vornherein nicht in Frage. Obwohl es bei vielen Tätigkeiten keine körperlichen Voraussetzungen gibt und Barrieren mit Hilfsmitteln behoben werden könnten, ist der Anteil an erwerbsfähigen arbeitslosen Schwerbehinderten im Vergleich zu demjenigen nicht behinderter Arbeitsloser überproportional hoch, und auch der Anteil qualifizierter Fachkräfte ist bei schwerbehinderten Arbeitslosen höher (Bundesagentur für Arbeit, 2018, S. 4, 10).

Bei der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln kommt es in Deutschland immer wieder zu Konflikten mit den Kostenträgern. Einsparungen auf Kosten der Qualität und zu Lasten der Versicherten werden von Interessensverbänden, der Wirtschaft und zunehmend auch von der Politik bemängelt. In den vergangenen Jahren wurden daher einige Gesetzesänderungen vorangetrieben, welche die Qualität stärker in den Fokus rücken sollten. Obwohl die Würde des Menschen einen übergeordneten Platz in der Verfassung einnimmt, wird diese in Versorgungsfragen jedoch nach wie vor oft durch einen preislichen Rahmen verletzt. In vielen Fällen trifft es dann Menschen, die ohnehin schon sozial oder vom Schicksal benachteiligt sind. Welchen Preis ein Mensch mit Behinderung in Form von Einbußen bei der Lebensqualität zahlt, wenn die Qualität eines Hilfsmittels kostenbedingt schlechter ist, als sie sein könnte, ist oftmals nicht bekannt und erscheint nachrangig.

1.2 Problemstellung und Zielsetzung

Menschen mit Behinderung bilden einen nicht unerheblichen Anteil an der Bevölkerung. Die meisten Behinderungen erleiden Menschen unverschuldet, sie werden durch Unfälle und Krankheiten verursacht. Hilfsmittel, die Versicherten kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, sind in vielen Fällen standardisiert und insofern nicht vorrangig oder vollständig auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt. Hochwertigere und individuelle Hilfsmittel haben ihren Preis und sind oft nur gegen Zuzahlung erhältlich. Da die Kosten in der Regel hoch sind, können sich Betroffene diese oft nicht leisten.

Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden Einsparungen am Menschen durch Kostenbegrenzungen von Hilfsmitteln hinterfragt und es wird den Forschungsfragen nachgegangen, inwieweit eine Wechselwirkung zwischen Hilfsmittelqualität und Lebenszufriedenheit besteht, welche Relevanz kritischen Erfolgsfaktoren zukommt und welche Folgen eine mangelhafte Hilfsmittelversorgung für Gesellschaft und Wirtschaft haben kann. Im Fokus stehen dabei umfangbedingt vorrangig Hilfsmittel sowie die Lebensqualität von körperbehinderten Menschen, die mit entsprechenden Hilfsmitteln autonom handeln und leben können.

Wie fatal eine Qualitätsbegrenzung für die Lebensqualität dieser Betroffenen sein kann, wird durch Experteninterviews aufgezeigt, die für diese Arbeit geführt wurden. Dabei wurde nach Einflussfaktoren auf die Lebensqualität wie Gesundheit, Arbeit, Freizeit, soziale Kontakte, aber auch nach der Erfüllung von Grundbedürfnissen gefragt. Auch bei einem nur geringen Einfluss der Hilfsmittelqualität auf die Lebensqualität stand zu vermuten, dass die menschlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen nicht unerheblich sind. Vor allem würde ein Zusammenhang von Hilfsmittelqualität und Lebensqualität aber darauf hindeuten, dass durch eine Kostenbegrenzung im Hilfsmittelbereich die Würde des Menschen verletzt und damit die Basis unseres Grundgesetzes sowie die Werte der Gesellschaft in Frage gestellt würden.

Eine hochwertige und schnelle Hilfsmittelversorgung sollte daher keine Frage der Kosten für den Versicherten sein. Im Gegenteil könnte eine standardmäßig hochwertige Versorgung nicht nur ideelle, sondern auch materielle Vorteile für die Gesellschaft mit sich bringen. Mit sinkenden Behandlungskosten würden sich höhere Hilfsmittelkosten für die Krankenkassen bezahlt machen und zu einer Entlastung von Ärzten, Krankenhäusern und der Pflege beitragen, was der angespannten Situation im Gesundheitssektor dienlich wäre. Von der Bereitstellung von Hilfsmitteln, die zur Erschließung von Arbeitsplätzen beitragen, würden auch die freie Wirtschaft und der Staat profitieren. Mehr behinderte Arbeitnehmer könnten zu einer Senkung von Sozialausgaben führen, die Steuereinnahmen erhöhen und die Wirtschaft ankurbeln.

1.3 Struktur der Arbeit

Um die Thematik dieser Arbeit fachgerecht aufzuarbeiten und nachvollziehbar zu gestalten, werden in Kapitel 2 zunächst wiederkehrende Begrifflichkeiten definiert, aktuelle Versorgungsgrundlagen beschrieben und mögliche theoretische Zusammenhänge zur Lebensqualität erläutert. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Hilfsmittel (Kapitel 2.1. bis 2.3.), das hier als entscheidender Einflussfaktor auf die Lebensqualität behinderter Menschen (Kapitel 2.6.) beschrieben wird. Schon die gesetzlichen Definitionen des Begriffs „Hilfsmittel“ legen einen theoretisch begründbaren Zusammenhang zwischen Hilfsmittelqualität und Lebensqualität nahe. In Anlehnung an offizielle Definitionen werden für diese Arbeit auch eigene Qualitätskriterien erarbeitet und begründet.

Da a priori grundlegende Fehler und Systemschwächen im Versorgungsprozess vermutet werden, wird dieser in Kapitel 2.4 detailliert beschrieben. Damit wird die Basis dafür gelegt, im weiteren Verlauf der Arbeit Probleme und Kontroversen bei der Umsetzung von Ansprüchen trotz guter Sozialrechtsbasis aufzuzeigen. Um das Verständnis der Thematik zu verdichten, wird im Kapitel 2.5 anschließend definiert, was eine Behinderung bedeutet. Anhand der Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppe wird deren Relevanz für den Arbeitsmarkt und insbesondere deren Potenzial bei guter Hilfsmittel-Versorgung erörtert.

Zusammenhänge von Hilfsmittel- und Lebensqualität wurden, wie in Kapitel 2.6 dargelegt wird, in vielen Bereichen bereits untersucht und konnten empirisch nachgewiesen werden. Im Fokus der Betrachtung stehen dabei Faktoren wie Gesundheit, Arbeit und Einkommen sowie Freizeit und Umwelt. Anhand von Beispielen wird gezeigt, wie entscheidend ein Hilfsmittel sich in Abhängigkeit bestimmter Qualitätsmerkmale auf den Erfolg oder Misserfolg bzw. auf das Erreichen von Lebensqualität auswirken kann. In Kapitel 2.7 wird anschließend das Hilfsmittel als entscheidender Faktor für die Herstellung von Handlungsbereitschaft und Motivation behinderter Menschen erörtert, der unabdingbar für die Erfüllung von Grundbedürfnissen ist. Begrenzungen der Hilfsmittelqualität werden auf dieser Basis als Einschränkung von Grundbedürfnissen interpretiert, die Handlungen erschweren oder unterbinden kann.

In Kapitel 3 werden auf Basis der theoretischen Erkenntnisse sodann Konzepte, Maßnahmen und Potenziale einer umfassenderen und hochwertigeren Hilfsmittelversorgung vorgestellt. Nachdem im einleitenden Kapitel 3.1 zunächst deutlich gemacht wird, dass Lebenszufriedenheit nicht von den Kosten eines Hilfsmittels abhängig gemacht werden sollte, wird in Kapitel 3.2 gezeigt, welche Chancen sich aus einer bedingungslosen und unbürokratischeren Hilfsmittelversorgung ergeben und welche finanziellen Vorteile den höheren Hilfsmittelausgaben infolge einer hochwertigeren Versorgung entgegenzusetzen wären. Kapitel 3.3 zeigt anschließend auf, wie fehleranfällig, ineffizient und kostspielig bisherige Prüfmechanismen und Verfahren bei der Hilfsmittelversorgung sein können. In Anbetracht hoher Fehlentscheidungsraten, unrechtmäßiger Ablehnungen sowie immenser Verwaltungs- und Folgekosten durch mangelnde Versorgung wird hier schließlich empfohlen, sich im Versorgungsprozess auf wesentliche Entscheidungsträger (Betroffener, Arzt und Versorger) zu begrenzen.

Auch die Arbeitswelt scheint durchdrungen von Vorurteilen und dem überholten Bild eines hilflosen und beschränkten behinderten Menschen. Arbeit und Einkommen sind jedoch in unserer Gesellschaft ein Schlüsselfaktor für eine hochwertige Versorgung und somit für mehr Lebensqualität. In Kapitel 3.4 werden mögliche Strategien betrachtet, die zu mehr Aufklärung und Offenheit der Arbeitgeber im Hinblick auf die Beschäftigung behinderter Menschen führen können. Wie im Bereich der Arbeit, so stehen auch im öffentlichen Raum nach wie vor viele Barrieren der Lebensqualität behinderter Menschen im Weg. Kapitel 3.5 zeigt auf, dass ein barrierefreier Ausbau finanzierbar und rentabel sein kann, sofern die Planung optimiert und Fehlerquellen in Zukunft behoben werden. Verschiedene Ansätze zielen dabei u.a. auf eine Sensibilisierung von Folgegenerationen sowie eine striktere Anwendung bestehender Gesetze zur Barrierefreiheit ab. Welche Bedeutung eine bessere Hilfsmittelqualität speziell für die Gesundheit der Betroffenen hat, wird in Kapitel 3.6 erläutert. Kapitel 3.7 befasst sich schließlich mit den Chancen und Möglichkeiten einer Hilfsmittelversicherung.

Um die in Kapitel 2 erarbeiteten theoretischen Zusammenhänge zu bestätigen und die in Kapitel 3 aufgeführten Problematiken und Lösungsansätze zu stärken, wurden Experteninterviews mit Betroffenen durchgeführt. In Kapitel 4 wird das Vorgehen bei der Durchführung dieser Experteninterviews beschrieben. Die Auswertung der Interviewdaten konnte die theoretischen Zusammenhänge zwischen Hilfsmittelversorgung und Lebenszufriedenheit bestätigen und ergab darüber hinaus etliche neue Aspekte, die im Fazit mit den besonders relevanten Erkenntnissen aus dieser Studie zusammengefasst werden. Aufgrund der hohen Relevanz des Themas in Bezug auf Menschenrechte und finanzielle Chancen wird hier dringend empfohlen, im Hinblick auf die Ergebnisse dieser Arbeit weitere Forschungsarbeit zu leisten. Dies betrifft insbesondere die Kostenberechnungen des Versorgungsprozesses, der als grundsätzlich reformbedürftig eingestuft wird.